Brexit - Factum est?
10.12.2020
Am 31. Dezember 2020 endet endgültig die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU. Das sind noch wenige Wochen. Was kann man in dieser Zeit angesichts der Historie überhaupt noch erreichen?
EU-Chefunterhändler Michel Barnier hat die Aussicht auf einen schnellen Abschluss der Vertragsverhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien trotz entsprechender Bemühungen in Frage gestellt.(1) Sollte es keine Einigung geben, droht ein harter Brexit ohne Handelsabkommen. Die EU sieht einen zeitlichen Spielraum für Verhandlungen bis Mitte November.
Es sei in Erinnerung gerufen, dass der britische Premier Cameron am 23. Januar 2013 ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU angekündigt hat. Am 23. Juni 2016 stimmten rund 52% der wahlberechtigten Briten für den Austritt, was zum Rücktritt Camerons und zur Bildung der Regierung Th. May führte. Auch Premier May hat es in rund drei Jahren angesichts der Zerstrittenheit im britischen Parlament und in den Parteien selbst nicht geschafft, ein Austrittsabkommen zu vereinbaren. Sie kündigt im Mai 2019 ihren Rücktritt an; am 23. Juli 2019 wird Boris Johnson neuer Parteivorsitzer und Premier der Tories.
Seither, insbesondere unter der Regierung Boris Johnson, erleben sowohl die Briten als auch die Bürger Europas ein „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“; dies alles gipfelt in dem britischen Binnenmarktgesetz, was im Prinzip einen ungeordneten Austritt aus der EU vorbereitet, die Grenzproblematik in Nordirland missachtet und laut Meinung der Vertreter der Europäischen Union rechtswidrig ist.
Im Oktober 2020 verschärfte Premier Johnson die Gangart dramatisch und hat eine Verhandlungsfrist bis zum 15. Oktober 2020 gesetzt und im Übrigen mit dem Abbruch der Verhandlungen gedroht. Die EU hat sich hiervon nicht beeindrucken lassen und unter der deutschen Ratspräsidentschaft die Verhandlungen fortgesetzt.
Tatsache ist, dass der Ausgang der Verhandlungen vollkommen offen ist. Euler Hermes schätzen die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexit auf 45%.(2) Nach einer Umfrage von YouGov vom 26.10.2020 stehen die Chancen 50 : 50 (25% der Befragten); 24% halten einen Vertragsabschluss sogar für unwahrscheinlich. (3)
Was wären die Folgen eines harten Brexit?(4)
Es wird geschätzt, dass der britische Export bis zu 15% einbrechen könnte (entsprechend einer Wirtschaftsleistung von fast 14 Mrd. EUR). (5) Die britische Währung könnte bis zu 25% an Wert verlieren.(6) Betroffene Branchen wären in Großbritannien insbesondere die Automobilindustrie und auch die Finanzdienstleister, die bereits rund 5.000 Arbeitsplätze nach Zentraleuropa verlagert haben.
Glaubt man der Wirtschaftspresse, so hat die Hortung von Waren im privaten Bereich bereits begonnen. Die Freizügigkeit zwischen den Staaten würde dramatisch eingeschränkt und die
Grenzfrage in Nordirland bliebe ungelöst, sie würde wahrscheinlich vielmehr wieder aufbrechen.
Aber auch für Europa und die EU hätte der Wegfall des zweitgrößten Nettozahlers erhebliche Folgen. In Deutschland wäre vorwiegend die Automobilindustrie betroffen, die in 2017 rund 720.000 PKWs nach Großbritannien exportierte.
Während die wirtschaftlichen Folgen laut London School of Economics für beide Seiten sich mindestens auf eine Dekade hinziehen würden, sind möglicherweise die politischen Folgen noch gravierender einzuschätzen.
Meines Erachtens zeichnet sich für Großbritannien eine politische und wirtschaftliche Isolation ab. Die politische Führung der EU müsste mehr denn je in Frage gestellt werden. In der Presse mehren sich die Stimmen (7), dass die Kommissionspräsidentin außer „markigen und/oder pathetischen Überschriften“ keine wesentliche Wirkung entfaltet.
Über allem schweben die von der weltweiten Corona-Pandemie ausgehenden dramatischen Gefahren für Leib und Leben der Bürger, aber auch für unsere Gesellschaft im sozialen und politischen Umfeld insgesamt. Auch in diesen Bereichen erwarten viele Bürger ein beherzteres Zupacken zur Einleitung bessernder Maßnahmen. In Großbritannien scheint dies nicht wirklich zu gelingen und auch die EU-Kommission hält sich merklich zurück.
In dieser diffusen Lage ist es verständlich, dass viele branchengebundene Organisationen ihre Mitglieder erneut auf die Gefahren eines harten Brexit hinweisen. Sollten in Großbritannien die negativen wirtschaftlichen Vorhersagen eintreffen, so wären die Tage des Premier Boris Johnson rasch gezählt. Für die große Weltpolitik bliebe er nur ein Intermezzo!